Der verstorbene Großmeister Yip ManDer letzte Großmeister aller Wing-Tsun-Stile Yip Man, das Oberhaupt des WingTsun-Stils, galt nicht nur unter seinen Anhängern, sondern in der gesamten Kung-Fu-Welt – also über die Stile hinaus – als Großmeister. Yip Man hatte wenig übrig für die Eitelkeiten dieser Welt. An Ruhm und Reichtum lag ihm nichts. Auch fehlte ihm das rüde und menschenverachtende Auftreten, das so manche Kung-Fu-Leute pflegen. Wer den Vorzug hatte, Yip Man kennenzulernen, fühlte sich in seiner Gesellschaft sofort entspannt und wie zu Hause. Seine Herzlichkeit, Aufrichtigkeit und Gastfreundschaft wurden in allen Handlungen offenbar. Seine Unterhaltungen im Fatshan-Dialekt spiegelten sein sorgloses und freundliches Naturell. Man konnte ihn wahrscheinlich als Gentleman und Gelehrten bezeichnen. Inhalt:
Vornehmer Kung-Fu-FanVon angesehener Familie stammend und als reicher Eigentümer eines großen Guthofs sowie einer ganzen Straße mitsamt ihren Häusern hätte Yip Man das behütete und verwöhnte Leben eines jungen Landedelmannes führen können, der seine Hände nicht schmutzig zu machen braucht. Aber zur Überraschung seiner Umwelt entwickelte er schon früh eine Liebe für die Kunst des Kämpfens. Anzumerken ist, dass es für einen gebildeten Chinesen durchaus nicht standesgemäß war oder ist, Kung-Fu als Hobby zu wählen. Ebenso wie im Westen Boxen oder Ringen galt dies als Zeitvertreib der unteren Schichten. Erst im Westen konnte z.B. asiatische Kampfkunst verbrämt und häufig aufgewertet durch Pseudo-Philosophie junge Intellektuelle anziehen. Im Gegensatz zum Karate, das in Japan und im Westen an den Universitäten betrieben wird, sodass Studenten und Akademiker damit schon früh in Berührung kommen, blieb chinesisches Kung-Fu eine Freizeitbeschäftigung der Arbeiterklasse, die zwar die besseren Kämpfer stellt, aber natürlich keine theoretisch geschulten Lehrer. Dadurch ergab es sich, dass die meisten Wing-Tsun-Lehrer etwa Kellner und Köche waren oder sind, die die Theorie weder verstanden hatten, noch sie an ihre Schüler weitervermitteln konnten. Yip Man war eine glückliche Ausnahme.
Glück oder Pech?Es gab ein Ereignis in Yip Mans Studienzeit in Hongkong, das er niemals vergessen sollte. Eine enttäuschende Niederlage, die sich dann schließlich als wahrer Glücksfall entpuppen sollte. Dadurch, dass er einen Kampf verlor, konnte er den Gipfel seiner Kung-Fu-Karriere erklimmen.
Zurück in FatshanWieder in Fatshan führte Yip Man das unbeschwerte und angenehme Leben eines reichen Sohnes, der sich keine Sorgen zu machen brauchte. So hatte er viel Zeit, mit seinem Si-Hing Ng Chung So und dessen Schüler Yuen Kay Shan Wing-Tsun zu praktizieren, sodass er immer besser wurde. Yuen Kay Shan hatte den Spitznamen „Yuen der Fünfte“, weil er der fünfte Sohn seines Vaters war. Deshalb nannten ihn alle Leute in Fatshan so und seinen richtigen Namen kannte bald keiner mehr. Obwohl Yuen der Fünfte in Wirklichkeit ein paar Jahre älter war als Yip Man, galt er in der chinesischen Kung-Fu-Terminologie als „Neffe“ (Si-Djuk), da Yip Man einer höheren Kung-Fu-Generation angehörte, das heißt, schon früher mit dem Wing-Tsun begonnen hatte. Aber da sie auch viel privaten Kontakt hatten, vergaßen sie – ungewöhnlicherweise für die chinesische Tradition – die Kluft zwischen ihren Generationen und wurden gute Freunde.
Mit den Fingern die Revolvertrommel herausgerissenYip Man war nicht an Ruhm oder Reichtum interessiert. Niemals gab er mit seinem Können vor anderen Leuten an. Dennoch gibt es ein oder zwei interessante Geschichten über ihn, die von Augenzeugen – möglicherweise nicht frei von Übertreibungen – berichtet wurden. Einem solchen Umzug sah auch Yip Man mit einigen jungen Damen zu. Nicht weit von ihnen stand ein Soldat. Yip Man hatte zu diesem Zeitpunkt etwas gegen Soldaten im Allgemeinen; denn wer damals Soldat wurde, war entweder ein Herumtreiber oder ein Bandit. „Ordentliche junge Leute gehen nicht zu den Soldaten,“ lautete damals ein gängiges Sprichwort.
K.o. in der ersten MinuteEin Boxer namens Kann Shan Mao aus der Kianghsi-Provinz in Nordchina kam nach Fatshan, um sich als Lehrer bei der Ching Wu Athletic Association von Fatshan zu bewerben. Er brüstete sich mit seinem Können und äußerte sich abfällig und in beleidigender Weise über den Standard der Kung-Fu-Leute in Fatshan. Deshalb wollten die Direktoren der Ching Wu Athletic Association ihm die Stellung auch nicht mehr geben. Stattdessen lud man ihn ein, bei einer Wettkampfveranstaltung im Fatshan-Theater gegen den berühmten Yip Man zu kämpfen. Yip Man selbst war wohl vorher nicht gefragt worden. Jedenfalls weigerte er sich zunächst, mit diesem Mann öffentlich zu kämpfen. Erst als Lee Kwong Hot, ein berühmter Kräuterarzt aus Fatshan, ihn inständig darum bat, sagte er widerwillig zu.
Wing-Tsun gegen das Phönix-AugeDen zweiten Kampf, den Yip Man im Namen der Kung-Fu-Leute aus Fatshan lieferte, war ein Zweikampf zwischen ihm und einem Schauspieler der Roten Dschunke, dessen Schauspieltruppe gerade Fatshan bereiste. In der vorstellungsfreien Zeit besuchte der Schauspieler eine berühmte Opiumhöhle, wie sie damals in Fatshan durchaus legal und üblich war. Dort gab er mit seinem Kung-Fu-Kenntnissen an. Einmal demonstrierte er sogar seine Phönix-Augen-Faust, indem er ein Loch in die Wand schlug. In diesem Etablissement traf er mit Yip Man zusammen. Er war so überzeugt von seinem Können, dass er unbedingt mit Yip Man kämpfen wollte, was Yip Man aber ablehnte. Wären die Zuschauer nicht gewesen, hätte der Kampf auch nie stattgefunden. Zu ihrer Überraschung schlug Yip Man seinen Herausforderer mit einem Schlag zu Boden, wo er mit blutender Nase liegen blieb.
Ein Kampf für Charlie WanIn Fatshan gab es einen Freund von Yip Man, den man Charlie Wan nannte und der dringend eine größere Geldsumme benötigte. Charlie Wan war ein Kämpfer des Choy-Lee-Fut-Stils, der als praktische Kampfmethode bekannt ist, sich aber technisch erheblich vom Wing-Tsun unterscheidet. Obwohl sie Freunde waren, stellten sie nie Vergleiche zwischen ihren Kampfstilen an oder sprachen in irgendeiner Weise darüber. Das machte die Einwohner Fatshans neugierig, wer von ihnen der bessere Kämpfer sei. Sie wollten deshalb einen öffentlichen Kampf ausrichten, wobei die Einnahmen aus den Eintrittsgebühren Charlie Wan zukommen sollten, der das Geld dringend brauchte.
Vier Fichtenstämme durchgetretenAls Yip Man in Fatshan lebte, arbeitete er eine zeitlang als Captain der Kriminalpolizei. Da kamen ihm seine Wing Tsun-Kenntnisse oft zu Hilfe und retteten ihm sogar mehr als einmal sein Leben. Der Stand, der Yip Man das Leben retteteAls Detektiv musste Yip Man auch einmal einen Dieb verfolgen, der auf ein Flachdach geflüchtet war. Als Yip Man ihm auf den Fersen war, sprang der verzweifelte Dieb kurz entschlossen auf das Dach eines benachbarten Hauses, um von dort über die Innentreppe nach unten zu fliehen. Aber Yip Man war fest entschlossen, ihn nicht entkommen zu lassen und riskierte ebenfalls den gefährlichen Sprung auf das andere Dach. Die Zuschauer bekamen aber einen furchtbaren Schreck, als der Dieb, der Yip Man springen sah, die Treppentür, durch die er gerade verschwinden wollte, auf Yip Man zustieß. Alle erwarteten, dass der gerade auf dem Dach landende Yip Man, der voll von der Tür getroffen wurde, in den Abgrund stürzen würde. Aber es war nur Yip Mans Oberkörper, der der Tür nach hinten nachgab. Seine Füsse blieben – wie durch ein Wunder – am Boden kleben, worauf er mühelos die Balance zurückgewann. Dies war für die Bürger von Fatshan ein weiterer Beweis für Yip Mans Meisterschaft im Wing-Tsun.
Rückzug ins PrivatlebenAls letzte Maßnahme, um Wing-Tsun zu fördern, gründete Yip Man 1967 mit Hilfe seiner Schüler die „Hong Kong Ving Tsun Athletic Association“. Zwei Jahre später, also 1969, schickte dieser Verband ein Team von Kämpfern zum „First South East Asia Kung-Fu-Tournament“, das in Singapore veranstaltet wurde. Das Team schnitt nicht so erfolgreich ab, wie der Verband es erwartet hatte. Danach fand man ihn üblicherweise morgens, nachmittags und sogar abends im Teehaus, wo er viel mit seinen Schülern scherzte und sich ganz und gar nicht wie ihr Meister aufführte. „Weshalb soll ich mich selbst so wichtig nehmen und mir auf meine Position etwas einbilden?“, war seine Philosophie. „Die anderen Leute sollen darüber entscheiden, ob ich etwas geleistet habe.“
Großmeister für alle Ewigkeit1972 hatte das Schicksal den sorglosen alten Mann eingeholt. Er bot eine Bild von körperlichem Verfall und zunehmender Schwäche. Eine ärztliche Untersuchung ergab die Diagnose Kehlkopfkrebs. Dennoch bekämpfte er die Krankheit optimistisch und mit großer Willenskraft. Er ging weiterhin ins Teehaus und dinierte abends mit seinen Schülern. Niemals hörten seine Schüler ihn klagen, denn er wollte ihr Mitleid nicht und sah seinem Ende gefasst entgegen.
Großmeister Yip Man und Bruce LeeUnter den Schülern Yip Mans war Bruce Lee einer der bekanntesten. Bruce Lee traf Großmeister Yip Man in Hongkong, als er dort das St. Francis College besuchte. Bruce Lees Vater, Lee Hoi Chuen, war ein guter Freund Yip Mans. Beide waren Flüchtlinge aus Fatshan. Weil Bruce Lees Vater und Yip Man sich so gut verstanden und Bruce Lee so viel Ehrgeiz und Fleiß beim Studium der Kampfkunst zeigte, gab Großmeister Yip sich beim Unterricht von Bruce Lee besondere Mühe. Aber nach knapp drei Jahren konnte Bruce Lee seine Wing-Tsun-Lektionen nicht mehr fortsetzen, denn er musste Hongkong verlassen, um in Amerika ein akademisches Studium zu beginnen. Bruce Lees Abschied von Großmeister Yip Man machte keinesfalls den Eindruck einer endgültigen Trennung von Schüler und Meister. Aber es gab schon Anzeichen von Missstimmung. Bruce Lees Ehrgeiz Im Sommer des Jahres 1965 kehrte Bruce Lee mit seiner Frau und seinem Sohn von Amerika nach Hongkong zurück. Er stattete seinem Meister einen Besuch ab und bat ihn, ihm den letzten Teil der Wing-Tsun-Holzpuppentechniken, den Bruce Lee noch nicht gelernt hatte, zu zeigen. Weiterhin bat er Yip Man um Erlaubnis, einen 8-mm-Film drehen zu dürfen mit Yip Man, der die Siu-Nim-Tau-Form demonstriert. Er benötigte diesen Film für seinen eigenen Unterricht in Amerika. Als Gegenleistung bot er Großmeister Yip Man an, ihm eine neue Eigentumswohnung zu kaufen. Bruce Lee machte jedoch einen großen Fehler. Dadurch, dass er zu viel von Geld sprach, verletzte er die Gefühle seines Lehrmeisters! Deshalb wies ihn Großmeister Yip Man ab: „Ich kann dir das nicht zusagen; denn du bist nicht mein einziger Schüler, und ich habe niemals irgendeinem Schüler solche Zusicherungen gemacht. Was sollte ich den anderen sagen, wenn ich dein Angebot annähme?“ Wing-Tsun und Jeet Kune Do Verdrossen kehrte Bruce Lee nach Amerika zurück. Er unterrichtete nun kein WingTsun mehr, denn er war sich darüber im Klaren, dass er niemals der erste Mann im Wing-Tsun werden könnte. Um seine Karriere fortsetzen zu können, musste er einen neuen Stil gründen, dessen Schöpfer er selbst war. Die Techniken, die er seinen Schülern beibrachte, nannte er nun „Jeet Kune Do“. In Wirklichkeit jedoch handelte es sich bei seinen Jeet-Kune-Do-Techniken hauptsächlich um Wing-Tsun-Techniken kombiniert mit Taekwondo und Karate, etwas westlichem Boxen, Judo, nördlichem Gottesanbeterin-Kung-Fu usw.. Seine Theorien, die er in Zeitschriften, Büchern und Magazinen verbreitete, waren hauptsächlich die Theorien des Wing-Tsun zusammen mit chinesischen Philosophien wie dem Taoismus. Dazu kamen noch Gedanken aus dem westlichen Boxen oder Judo.
Das Interview mit Großmeister Yip Man im „New Martial Hero“Eines von zwei jemals veröffentlichten Gesprächen mit dem berühmten Kung-Fu-Großmeister „New Martial Hero“ war ein Kampfkunstmagazin in Hongkong, das sich besonders in den späten 60er und frühen 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts sehr gut verkaufte. Ab Mitte der 70er traten jedoch wirtschaftliche Schwierigkeiten auf, die letztendlich Anfang der 80er zur Einstellung der Zeitschrift führten. Das folgende Interview wurde während der Blütezeit des Magazins in den frühen 1970ern geführt. Großmeister Leung Ting erinnert sich noch ganz genau daran, als Mok Pui On ihn fragte, ob er seinen Lehrer zu einem Interview bewegen könne. Es war nämlich weithin bekannt, dass Großmeister Yip Man seine ganz eigene Meinung zur Medienöffentlichkeit hatte: Er stand Interviews sehr ablehnend gegenüber und ließ sich auch nicht gerne fotografieren – insbesondere nicht in Kung-Fu-Stellungen. Deswegen hatten es die Redakteure schon seit langer Zeit aufgegeben, Yip Man zu Gesprächen oder Fototerminen zu bewegen. Um so überraschter war Mok Pui On, als er erfuhr, dass es Großmeister Leung Ting gelungen war, ein Interview mit seinem Lehrer zu arrangieren. Während Mok das Gespräch mit Großmeister Yip Man führte, fotografierte Leung Ting. Nach dem Interview in Großmeister Yip Mans Haus wurde das Gespräch im Restaurant „Sam Hei Lau“ fortgeführt, in dem Yip Man für gewöhnlich zu frühstücken pflegte. Besonders in Erinnerung blieb Großmeister Leung Ting, dass sein Lehrer, Großmeister Yip Man, Mok Pui On gegenüber betonte, dass „Wing-Tsun“ nicht das Gleiche ist wie „Weng Chun“. Mok Pui On erzählte Yip Man, dass er bei seinem eigenen Si-Fu Chu Chung Man dreizehn Jahre lang „Weng Chun“ gelernt hatte, es aber immer noch einige Bewegungen gab, die er nicht beherrschte. Großmeister Yip Man antwortete ihm daraufhin: „Sei nur geduldig. Eines Tages wirst du alles gelernt haben.“ Als aber Mok Pui On sich verabschiedet hatte, dauerte es keine zwei Sekunden, bis der alte Großmeister sagte: „Hast du gesehen, wie dumm Mok Pui On ist? Wenn einer dreizehn lange Jahre braucht, um nichts zu lernen, dann wäre es besser, er würde Atomphysik studieren.“ Das Interview wurde später im „New Martial Hero“ veröffentlicht. Nachfolgend die wichtigsten Passagen des Artikels. (Ein bedeutender Aspekt war dabei die Unterscheidung der beiden Kung-Fu-Stile „Weng Chun“ und „Wing-Tsun“. Dem heutigen (europäischen) Leser mag die besondere Betonung dieses Umstandes nebensächlich erscheinen, in der Fachwelt Hongkongs der 1970er Jahre war das aber von größtem Interesse. Anm. der Redaktion). Hier nun der Originaltext: Manche Leute glauben, dass es sich bei „Weng Chun“ und „Wing-Tsun“ um den gleichen Kung-Fu-Stil handelt, für den nur zwei verschiedene Namen benutzt werden. Tatsächlich gibt es aber sehr viele Unterschiede. Zum einen ist das Oberhaupt der Wing-Tsun-Familie in Hongkong Großmeister Yip Man, wogegen der Anführer der Weng-Chun-Familie Großmeister Chu Chung Man ist. Sowohl die Techniken als auch die Formen weisen einige Unterschiede auf. Obwohl man in beiden Stilen eine Holzpuppen- und eine Langstockform kennt, gibt es z.B. im Weng Chun eine Form namens „Bart-Mo-Dan-Da“ oder eine, die als „Lin-Wan-Kou-Da“ bezeichnet wird, die im Wing-Tsun nicht enthalten sind. Ein weiterer Grund für die Verwechslung ist, dass es zwar scheinbar ähnliche Techniken bzw. Bewegungen gibt, die aber unter völlig anderen Prinzipien angewandt werden.
GM Yip Man: „Dieser Spitzname wird meinem Lehrer nicht gerecht. Neben „Wah der Geldwechsler“ wurde er auch „Ngau-Ching Wah“ („Wah der Stier") genannt. Er war der Meisterschüler von Dr. Leung Jan.“ New Martial Hero: „Das heißt wohl, dass Wah der Geldwechsler ein sehr unbeherrschter Mann war, der immer kämpfen wollte, oder? Wie viele Schüler hatte er? Wann wurden Sie aufgenommen?“ GM Yip Man: „Einschließlich mir selbst hatte Wah nur sechzehn Schüler. Ich war gerade 11 Jahre alt, als ich sein letzter Schüler wurde.“ New Martial Hero: „Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass der letzte Sohn am meisten geliebt wird. Waren Sie demnach auch der meistgeliebte Kung-Fu-Sohn?“ GM Yip Man: „Das ist richtig. Als ich bei ihm lernte, war er bereits 70 Jahre alt. Er war zwar schon ein bisschen schwach, aber er korrigierte meine Fehler immer noch mit großer Geduld. Darüber hinaus beauftragte er seine anderen Schüler, mich zu unterrichten. So wurden meine Techniken schnell besser.“ New Martial Hero: „Großmeister Yip Man, Sie sagten, dass Wah Kung (Chan Wah Shun) während seines ganzen Lebens nur sechzehn Schüler unterrichtete. Warum hatte er nur so wenige Schüler?“ GM Yip Man: „Das ist eine gute Frage. Ich werde Ihnen die Gründe erläutern. Früher waren die Leute, was das Lehrer-Schüler-Verhältnis anbelangt, sehr streng. Bevor einer als Schüler aufgenommen wurde, überprüfte man sehr sorgfältig dessen Charakter. Gemäß dem chinesischen Sprichwort: „Den richtigen Schüler für den Unterricht auswählen.“ Außerdem hing es davon ab, ob der Schüler die Unterrichtsgebühren bezahlen konnte oder nicht. Es gab nämlich nicht sehr viele Leute, die sich das leisten konnten. Ein Beispiel: Ich bezahlte während der Aufnahmezeremonie in dem roten Umschlag 20 Tael Silber. Außerdem musste ich jeden Monat acht Tael Silber Schulgebühren bezahlen.“ New Martial Hero: „Wie viel waren 20 Tael Silber wert, verglichen mit dem damaligen Lebensstandard?“ GM Yip Man: „Für 20 Tael Silber konnte man durchaus eine Frau heiraten, wenn man die Hochzeit ein wenig sparsam ausrichtete. Mit etwa eineinhalb Tael konnte man ungefähr 150 Pfund Reis kaufen. Deswegen lernten damals vor allem reiche Leute Kung-Fu. Nur solche Leute konnten ihren Beruf aufgeben und in den alten Tempeln in den Bergen trainieren. Es war nicht wie heute, wo alle Leute ohne große Umstände Kung-Fu lernen können.“ New Martial Hero: „Nach dem Tod von Wah dem Geldwechsler, verließen Sie Fatshan und kamen nach Hongkong, um dort am St. Stephan’s College zu studieren. Haben Sie wieder angefangen, Wing-Tsun zu lernen, als Sie nach Hongkong kamen?“ GM Yip Man: „Ja, natürlich! Dass das möglich war, habe ich einem höchst fähigen Wing-Tsun-Experten zu verdanken, von dem ich die fortgeschrittensten Wing-Tsun-Techniken erlernte.“ New Martial Hero: „Wer war dieser Wing-Tsun-Experte?“ GM Yip Man: „Leung Bik, der älteste Sohn von Dr. Leung Jan. Die Geschichte, wie ich meinen Lehrer Leung Bik kennenlernte, ist beinahe dramatisch. Ein wirklich lange Geschichte.“
Nach sechs Monaten in Hongkong erzählte ein Klassenkamerad namens Lai, dessen Vater eine große Seidenfabrik in der Jervois-Straße in Sheung Wan betrieb, dass in ihrem Haus ein älterer Mann wohne, der einige Kung-Fu-Techniken kenne. Dieser Mann lud Yip Man zu einem freundschaftlichen Sparring ein. Yip Man hatte bis dahin noch nie einen Kampf verloren und deswegen nahm er sofort jede Herausforderung an. Lai vereinbarte also ein Treffen für Sonntagnachmittag. An jenem Sonntag ging Yip Man also zum Haus seines Klassenkameraden. Nachdem er dem älteren Mann vorgestellt worden war, blickte Yip Man ihn verwundert an. In seinen Augen sah er mehr wie ein typischer Gentleman aus – und nicht wie einer, der Kung-Fu beherrschen würde. Nach einem kurzen Gespräch forderte Yip Man den Mann frech zu einem Sparring heraus. Mit einem Lächeln entgegnete der Mann: „Du, Yip Man, willst also mit mir einen kleinen Sparringskampf machen. Bevor wir anfangen, möchte ich dir noch sagen, dass du keine Rücksicht auf mich zu nehmen brauchst. Alles, was du tun musst, ist, mich, egal wo, mit deiner ganzen Kraft anzugreifen. Mehr nicht!“ Als er das gehört hatte, wollte der überhebliche Yip Man nichts mehr als diesen Mann niederschlagen! Kaum hatte ihm der Mann ein Zeichen zum Angriff gegeben, da stürmte Yip Man schon mit einem Hagel von Schlägen auf ihn ein. Aber der Mann bewegte sich so schnell, dass er ihn nicht ein einziges Mal treffen konnte. Im Gegenteil – mit seinen Gegenangriffen trieb er Yip Man sogar in eine Ecke. Dort stoppte er seine Attacke sofort. Nach diesem ersten Aufeinandertreffen, das er schon sogleich verloren hatte, konnte Yip Man nicht glauben, was passiert war. Er bat sofort um eine Wiederholung. Aber wieder wurde Yip Man völlig von diesem Mann kontrolliert. Jetzt wusste Yip Man, dass er von einem wahren Meister des Kung-Fu besiegt worden war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ Yip Man das Haus. Nach diesem Sparring war Yip Man so enttäuscht, dass er nicht einmal mehr daran glaubte, Kung Fu überhaupt zu kennen. Nach einer Woche erzählte Lai ihm, dass der Mann Yip Man wieder sehen wolle. Doch Yip Man hatte Angst und schämte sich zu sehr, deswegen sagte er zu Lai: „Ich fühle mich zu erniedrigt, um ihn wieder zu treffen. Ich habe nicht seine Klasse.“ Doch zu seiner Überraschung sagte ihm Lai, dass der Mann seine Kung-Fu-Techniken sehr lobte. Deswegen wolle er Yip Man wiedersehen und mit ihm sprechen. Und Lai begann, Yip Man das Geheimnis hinter diesem Mann zu erzählen: Tatsächlich war er kein anderer als Leung Bik, der Sohn von Dr. Leung Jan! Nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, dachte Yip Man: „Aha! Deswegen sind seine Kung-Fu-Techniken so brillant. Diesmal habe ich also mit einem wirklichen Wing-Tsun-Meister gekämpft!“ Sofort realisierte Yip Man, welche großartige Gelegenheit das war. Die Kung-Fu-Techniken, die er bei Wah dem Geldwechsler gelernt hatte, waren noch nicht sehr fortgeschritten. Das würde die beste Gelegenheit für ihn sein, viel ausgereifteres Wing-Tsun zu erlernen. Deswegen verlor er keine Zeit, Lai zu bitten, ihn mit zur Seidenfabrik zu nehmen, um Leung Bik zu treffen. Weil Yip Man ein außerordentlich begabter Kung-Fu-Schüler war, war Leung Bik sehr erfreut, sein Wissen an ihn weitergeben zu können. Nach einigen Jahren ging Leung Bik nach Fatshan zurück, doch zu diesem Zeitpunkt hatte Yip Man bereits die höchsten Wing-Tsun-Techniken gelernt. Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview mit GM Yip Man ist aus mehreren Gründen sehr interessant:
Mehr über diese Unterschiede kann man im Buch „Roots of WingTsun“ erfahren.
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